„Solange das Patriarchat den Mantel des Schweigens über Abtreibungen ausbreiten kann, bleibt das Thema schambehaftet“: Mona Eltahawy über ihre Bitte, unsere Geschichten zum Schutz der Rechte von Frauen zu teilen
Nach der katastrophalen Entscheidung für Frauen in den USA, bei der erstmals in der Geschichte der Oberste Gerichtshof ein verfassungsmäßiges Recht aufhob – was definitiv weltweite Auswirkungen haben wird – schreibt Mona Eltahawy in ihrem zutiefst eindringlichen Essay darüber, warum sich Frauen jetzt mehr denn je gegen das bewusst schambehaftete Abtreibungsnarrativ zur Wehr setzen müssen
Einige Wochen vor Ausbruch der Corona-Pandemie sah ich mir in einer Kunstgalerie in meinem Wohnort New York eine vielbesuchte Ausstellung zum Thema Abtreibung an mit dem Titel Abortion Is Normal. Von den Wänden und Decken hingen Bilder, Fotografien, Skulpturen und Installationen mit Interpretationen von Abtreibungen – abstrakte Darstellungen ebenso wie plastische Erlebnisse.
Die Galerie war voll jener pulsierender Energie, für die New York so berühmt ist, aber da war noch etwas Anderes. Ich kam mir vor, als lauschte ich einem verschworenen Kreis von Menschen, die schon einmal eine Abtreibung gehabt hatten und darauf vertrauten, dass ihre Geschichten urteilsfrei auf Liebe und Unterstützung treffen würden. Könnten die Wände dieser Galerie sprechen, hätten sie gemeinsam im Chor gesungen: Wir hören dir zu, wir lieben dich, Abtreibung ist normal.
Gleichzeitig kam ich mir ziemlich feige vor.
Ein paar Monate später wurde ich gefragt, ob ich einen unterstützenden Kommentar zum ergreifenden Bericht You‘re The Only One I‘ve Told: The Stories Behind Abortion von Dr. Meera Shah schreiben könne, in dem sie die persönlichen Erfahrungen von Personen teilt, die eine Abtreibung hatten, aber kaum jemandem oder gar niemandem davon erzählt hatten. Auch wenn die Frauen, die mit Dr. Shah sprachen, einander nicht kannten, gefiel mir der Ansatz, dass sie sie als Gemeinschaft präsentierte – wie die der Künstler bei der Ausstellung, auf der ich gewesen war.

„Ich musste unweigerlich daran denken, wie toll es wäre, wenn sich diese Menschen treffen könnten, um nicht nur mir, sondern auch sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen. Ich dachte darüber nach, ob ich ihnen nicht einen gemeinsamen Raum geben könnte, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind“, schreibt Dr. Shah im Vorwort ihres Buches.
Voller Begeisterung verfasste ich einen Kurztext zum Buch von Dr. Shah – die Erzählungen sind so lebendig, und sie ist eine der wenigen Women of Color in der Medizin, die offen zugeben, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen.
Ich kam mir noch immer ziemlich feige vor.
Warum konnte ich begeistert Bilder von der Ausstellung Abortion Is Normal in meinen Social-Media-Accounts teilen und Leute auffordern, sie sich unbedingt anzusehen; und wie konnte ich begeistert Dr. Shahs Buch mit Abtreibungsgeschichten kommentieren, es als revolutionäre und lebendige Lektüre beschreiben, aber andererseits nicht den Mut aufbringen, mit meinen eigenen Abtreibungserlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen?
Kurz gesagt: Beim Thema Abtreibung ist das Persönliche viel gefährlicher als das Politische. Eine längere Antwort darauf findet sich in About Abortion: Terminating Pregnancy in Twenty-First-Century America von Carol Sanger: Ihr zufolge besteht ein Unterschied zwischen Privatsphäre und Geheimhaltung.

„Wir müssen den wichtigen Unterschied zwischen diesen beiden verschwiegenheitsbezogenen Ausdrücken bemerken und uns dessen bewusst werden, was sie in Bezug auf Abtreibungen bedeuten. Das Verschweigen von Abtreibungen in der modernen Gesellschaft hat häufig nichts mit dem Schutz der Privatsphäre, sondern eher mit Geheimniskrämerei zu tun. Ein Geheimnis ist viel düsterer, psychologisch anstrengender und gemeinschaftsschädigender als Privatsphäre“, meint Sanger.
Und weiter: „Die Entscheidung, eine Abtreibung geheim zu halten, ist häufig eine Reaktion auf die Androhung von Gewalt, Schikane, Stigmatisierung oder Ähnlichem.“ Ich hatte ein paar Freunde ins Vertrauen gezogen, dass ich eine Abtreibung vorgenommen hatte, aber mein öffentliches Schweigen war ein Ergebnis der Scham, die über dem Geheimnis schwebt und dich zwingt, es zu bewahren.
Deshalb musste ich endlich reden.
Solange das Patriarchat den Mantel des Schweigens über Abtreibungen ausbreiten kann, bleibt das Thema schambehaftet. Also brach ich endlich mein Schweigen, um mich von der Scham zu befreien – 25 Jahre nach meinen Abtreibungen.
1996 hatte ich eine „illegale“ Abtreibung in Ägypten. Für meine Gesetzesübertretung drohten mir sechs Monate bis drei Jahre Gefängnis. Der Arzt, der den Eingriff vorgenommen hat, riskierte zwischen drei und 15 Jahren hinter Gittern. Und auch mein damaliger Freund und sein Cousin riskierten Freiheitsstrafen, weil sie mir geholfen hatten, einen Arzt zu finden, und mich zur Klinik gefahren hatten.
Im Jahr 2000 hatte ich dann eine „legale“ Abtreibung in Seattle in den USA. Jetzt hat der Oberste Gerichtshof das Bundesabtreibungsgesetz mit der Grundsatzentscheidung Roe gegen Wade gekippt. Für Schwangere, die eine Abtreibung in Erwägung ziehen, bedeutet das, dass sie mit ähnliche Strafen rechnen müssen wie ich einst in Ägypten.
Ich setze die Ausdrücke „legal“ und „illegal“ in Anführungszeichen, weil ich mich dagegen wehre, mir vom Staat – und Bundesgerichtshof – vorschreiben zu lassen, was ich mit meinem Uterus machen darf und was nicht. Diese Entscheidung liegt allein bei mir. Ich verwende die Anführungszeichen aber auch als Erinnerung daran, dass eine Abtreibung – egal ob „legal“ oder „illegal“ – immer noch totgeschwiegen wird, obwohl dieser medizinische Eingriff sicherer ist als eine Schwangerschaft. Die meisten Leute wissen das nicht. Die meisten wissen auch nicht, dass sie höchstwahrscheinlich eine Person kennen, die schon einmal einen Schwangerschaftsabbruch hatte. Im US-amerikanischen Sprachraum hat sich dafür dieser Spruch etabliert: „Someone you love has had an abortion“ – jemand, den du liebst, hat abgetrieben.
Wenn wir dieses Schweigen nicht brechen, wenn wir das Geheimnis nicht lüften, können wir Abtreibungen nicht aus dem Dunkel ziehen und zur öffentlichen Debatte machen. Schließlich handelt es sich um ein Menschenrecht. Und Abtreibungsgegner werden es weiterhin erfolgreich in eine Zwangsjacke aus Scham und Stigma pressen.
Jede vierte Schwangerschaft endet mit einem Abbruch. Es handelt sich also um kein seltenes Phänomen.
Einer der Gründe, warum ich schließlich meine Abtreibungsgeschichten publik machte: Von Frauen, die wie ich aussehen, wird im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen nur selten berichtet. Drei der Personen, die Dr. Shah in ihrem Buch zu Wort kommen lässt, kommen wie sie selbst aus südasiatischen Familien, und eine von ihnen hat muslimische Wurzeln, so wie ich. Diese drei Frauen erzählten Dr. Shah, dass ihre Abtreibungen für sie noch einsamer und schwieriger gewesen waren, weil es keine Berichte über Frauen mit ihrem ethnischen Hintergrund gab.
Ich wollte außerdem über meine Abtreibungserfahrungen erzählen, weil ich endlich sagen wollte, was ich so lange gern selbst gelesen hätte: Ich habe abgetrieben, weil ich nicht schwanger sein wollte. Punkt. In so vielen Abtreibungsberichten, die ich gelesen habe, klang es, als ob Frauen um Vergebung baten, die ihnen aber niemand erteilen konnte. Es schien beinahe, als ob sie unter Beweis stellen mussten, dass sie einen guten Grund für die Abtreibung gehabt hatten – sei es aufgrund der erlittenen Qualen beim Zeugungsakt (durch Vergewaltigung oder Inzest) oder der zu erwartenden Schwangerschaftskomplikationen. Die Frauen wirkten, als ob sie beweisen müssten, dass sie eine „gute“ Abtreibung hatten, weil sie „gute“ Frauen waren.
Ich wollte einfach sagen: Ich wurde nicht vergewaltigt. Ich litt nicht unter massiver Schwangerschaftsübelkeit. Die Schwangerschaften waren für mich nicht lebensbedrohend. Ich hatte nicht schon Kinder. Ich wollte einfach nicht schwanger sein. Ich wollte kein Kind haben. Nicht meine Abtreibungen waren traumatisch, sondern die Stille, die sie umgab. Ich bin froh, dass ich abgetrieben habe. Dadurch konnte ich das Leben leben, das ich mir ausgesucht habe.
Frauen jedoch, die traumatische Abtreibungen erlebt haben, macht die Heimlichtuerei die Sache noch schwerer. Und genau dann, wenn sie den Schutz der Gemeinschaft am dringendsten bräuchten, fühlen sie sich isolierter denn je.
Das Persönliche ist viel gefährlicher als das Politische, weil Ersteres der tagtäglichen Tyrannei „Was die Leute wohl sagen werden?“ unterliegt. Es ist ein unsägliches Netzwerk an sozialem Stillschweigen, das über solch eine massive Kontrolle verfügt, die selbst die einflussreichsten staatlichen Sicherheitsdienste neidisch werden lässt.
Doch egal, ob eine Abtreibung eine Erleichterung oder ein traumatisches Erlebnis war: Es muss endlich Schluss sein mit dieser Tyrannei. Dazu muss verdeutlicht werden, welche Faktoren Abtreibungsverbote – und im weiteren Sinne die Tabuisierung des Eingriffs – begünstigen.
Abtreibungsverbote wollen uns dafür bestrafen, dass wir es wagen, über unseren Körper und unser sexuelles Verlangen außerhalb etablierter Normen bestimmen zu wollen. Sie zielen darauf ab, unsere Körper zu überwachen und uns für Sex außerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau zu bestrafen.
Abtreibungsverbote werden von Fanatikern und Puritanern dominiert – jenen Alltagsdiktatoren, die die Tyrannei aufrechterhalten mit Sätzen wie: „Was die Leute wohl sagen werden?“ Was, wenn wir uns nicht mehr verstecken? Wenn wir uns diesem „Was die Leute wohl sagen werden?“ mit mutiger Sichtbarkeit entgegenstellen?
Eines der beeindruckendsten Exponate der Ausstellung Abortion Is Normal war die Installation The Diamond At The Meeting Of My Thighs von Jaishri Abichandani. Sie ließ mich innehalten und zwang mich, sie zu umkreisen, in mich aufzunehmen und ihre wundervolle Klarheit zu bestaunen. In einer diamantförmigen Struktur gebiert eine göttinnenhafte Figur ein Kind, und erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass sie gleichzeitig auch mehrere Eier geboren hat.

„Ich habe meine dritte Abtreibung im Alter von 47 Jahren vornehmen lassen. Obwohl ich schon zwei gehabt hatte und mich entschied, ein Kind zu behalten, fiel mir die Entscheidung nicht leicht, weil ich mich in meinem Herzen so lange nach einem Mädchen gesehnt hatte“, erzählte mir Abichandani. „Meine Freundin Imani hat mir geholfen, diesen Wunsch in ein anderes Yoniversum zu entsenden, in dem meine Tochter ohne jegliche Gewalt existieren könnte. Das habe ich in das Werk gechannelt. Sie gebiert ein Kind, aber zu ihren Füßen liegen so viele Eier, die sie nicht als Kinder, sondern als Kunstwerke auf die Welt bringt.“
Als Abichandani mir die Inspiration zu ihrer Installation verriet, drängte eine flüsternde Stimme in mir: „Versteck dich nicht mehr.“ Was würde passieren, wenn ich genauso offen wie Abichandaniüber meine Abtreibungen sprechen würde? Und könnte ich die Inspiration, zu der Abichandani mir verholfen hat, wie ein Leuchtfeuer bei anderen entzünden, die noch immer unter der Geheimniskrämerei leiden?
Ich habe mir einen Ruck gegeben und angefangen zu reden.
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Auf unseren Social-Media-Seiten hat Mona Eltahawy eine Liste mit Filmen, Büchern und Kunstwerken zusammengestellt, die Schluss mit der abtreibungsbezogenen Scham machen und eindrucksvolle Geschichten zur Stärkung der Abtreibungsrechte erzählen.
Mona Eltahawy ist die Autorin der Bücher „The Seven Necessary Sins For Women and Girls“ und „Warum hasst ihr uns so? Die brutale Unterdrückung der Frauen in der arabischen Welt“ und die Gründerin des Newsletters FEMINIST GIANT