Safe Spaces für die queere Community im Kosovo und ihre LGBTQIA+-Aktivist*innen
Im Juni dieses Jahres zogen Hunderte von Menschen durch die Straßen von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, um die siebte Pride-Parade in Folge unter dem Motto „Ich liebe dich so, wie du bist“ zu feiern. Für viele war der Marsch ein Symbol der Hoffnung und des Fortschritts; ein weiterer Beweis dafür, dass sich der Trend zur öffentlichen Akzeptanz und zum Feiern der queeren Kultur fortsetzt.
Dieser Wandel wird vor allem von der bekanntlich jungen Bevölkerung des Kosovo vorangetrieben – 55 % sind unter 30 Jahre alt. Seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 ist die sexuelle Orientierung in der Verfassung des Landes als eine vor Diskriminierung geschützte Kategorie anerkannt. Jetzt haben LGBTQIA+-Aktivist*innen ihre Forderungen nach Gleichberechtigung durch andere Gesetze lauter werden lassen. Im Jahr 2015 wurde das Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung geändert, um die Genderidentität als geschützte Kategorie aufzunehmen.
Dennoch sind LGBTQIA+-Rechte nach wie vor mit ernsthaften sozialen und rechtlichen Problemen verbunden. In den letzten Jahren lehnte das kosovarische Parlament gleich zweimal das Zivilgesetzbuch des Landes ab, insbesondere wegen eines Artikels zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Transgender-Personen haben keinen Zugang zu einer geschlechtsangleichenden Behandlung im Gesundheitssystem. Sozialer Konservatismus und Homophobie sind nach wie vor weit verbreitet.
Dennoch kämpft eine inspirative Community weiter für eine sicherere Gesellschaft für alle, die niemanden vergisst. Service95 unterhält sich mit vier unglaublichen LGBTQIA+-Aktivist*innen in Pristina über das Konzept „Safe Space“ – was es für den/die Einzelne*n heißt und warum es so wichtig ist, die Idee zu verteidigen.

Rina Krasniqi – Schauspielerin/Künstlerin, 26 (sie/ihr)
2021 gelang Rina Krasniqi der internationale Durchbruch mit ihrer Hauptrolle im Film Luanas Schwur, der auf dem Warschauer Filmfestival uraufgeführt wurde. Im Sommer 2022 holte der Film alle drei Hauptpreise beim PriFilmFest, dem internationalen Filmfestival von Pristina. Neben dem Preis für den besten Spielfilm erhielt Krasniqi auch den Preis für die beste männliche und die beste weibliche Darbietung.

Luanas Schwur schildert das Leben einer „eingeschworenen Jungfrau“. Dabei handelt es sich um eine jahrhundertealte albanische Tradition, bei der einige Frauen ein Zölibatsgelübde ablegen und als Männer in einer ansonsten patriarchalischen Gesellschaft leben, die die Frauen unterdrückt. Die von Krasniqi verkörperte Figur Luana beschließt, ein Mann zu werden, um einer arrangierten Ehe zu entgehen.
Krasniqis Doppelpreis löste in Pristina sowohl Kritik als auch Lob aus – und spiegelt die weltweite Diskussion in der Branche wider, ob geschlechtsspezifische Kategorien aufgegeben werden sollten, um einen inklusiveren Ansatz zu schaffen und nicht-binäre Künstler*innen anzuerkennen.

Krasniqi ist stolz darauf, Teil des Wandels zu sein. „Wenn du neues Terrain betrittst, musst du damit rechnen, dass du angefeindet wirst“, sagt sie mit Bezug auf einige der heftigen Gegenreaktionen. „Aber es ist auch schön, denn so schaffst du Raum für neue Dinge, die entstehen können. Ich glaube, dieser Film hat dazu hier [im Kosovo] einen wertvollen Beitrag geleistet. Die Leute haben gesehen, dass queere Personen arbeiten und erfolgreich sein können und sich dabei selbst treu bleiben.“
Für Krasniqi war Luanas Schwur (eine deutsch-belgisch-albanische Koproduktion) sowohl aus persönlichen als auch aus beruflichen Gründen etwas Besonderes. Am Set verliebte sie sich; das Paar lebt mittlerweile abwechselnd in Pristina und in Brüssel. Krasniqi glaubt, dass der Film auch dazu beigetragen hat, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was uns alle menschlich macht. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir nicht nur queer sind, sondern auch Menschen“, sagt sie. „Und wir sollten daran denken, dass unser Safe Space genau diese Menschlichkeit ist, von der Kindheit bis zur Gegenwart.“

Krasniqi stand zum ersten Mal als Vierjährige in einer TV-Show für Kinder mit ihrer Schwester auf der Bühne und sang dort das Lied Daba Daba. Der Song wurde zum Kinderhit einer ganzen Generation. Seitdem ist sie auch in andere Bereiche der Kunstwelt vorgedrungen. Sie spielt gleich mehrere Instrumente (Klavier, Gitarre und Schlagzeug) und ist Sängerin, Theaterschauspielerin und jetzt auch preisgekrönte Filmschauspielerin. Auftritte – egal wo – waren schon immer ihr persönlicher Safe Space.
„Durch die Schauspielerei lassen sich verschiedene Figuren mit ganz unterschiedlichen Identitäten und Biografien erschaffen. Das war für mich die größte Freiheit“, meint sie, „quasi meine Komfortzone.“

Edon Shileku – Schauspieler und YouTuber, 25 (er/ihn)
Im Vorfeld der Pride 2023 wurde die Wohnung von Edon Shileku zu einem professionellen Studio. Dort hat er seine kürzlich gestartete YouTube-Show Me men’ ska (Es gibt nichts Besseres, als Verstand zu haben) für das Online-Medienunternehmen Nacionale in Pristina aufgenommen.
Die Sendung beginnt mit einer Warnung: „Nicht für engstirnige Personen empfohlen, es sei denn, ihr seid offen dafür, euch zu öffnen.“ In seiner Sendung führt er intime Gespräche mit diversen prominenten Kosovar*innen aus der Kulturwelt – Schauspieler*innen, Musiker*innen, Modedesigner*innen, Dichter*innen und anderen. Shileku nutzt die beruflichen Erfahrungen seiner Gäste als Ausgangspunkt für die Erörterung größerer gesellschaftlicher Themen, wie Probleme im Bildungssystem, psychische Gesundheit sowie Barrierefreiheit und Ausbeutung in der lokalen Kunstszene. Er möchte unter anderem queeren Stimmen in der öffentlichen Diskussion eine Plattform bieten.

Als Schauspieler in diversen unabhängigen Theaterproduktionen ist Shileku, der in Pristina aufgewachsen ist, kein Unbekannter in der Kulturszene des Kosovo. Richtig bekannt wurde sein Name aber erst dieses Jahr, als er bei Big Brother VIP Kosova, der ersten lokalen Ausgabe der internationalen Reality-Show, mitmachte. Mit seinem Charisma und seinem unverblümten Bekenntnis zu seiner Bisexualität und seiner Drag-Figur Victoria Owns hat Shileku kulturelle Barrieren niedergerissen und dazu beigetragen, dass LGBTQIA+ in der Mainstream-Kultur des Kosovo vertreten sind.
„Leute aus der Community haben nicht die Möglichkeit, im Fernsehen präsent zu sein, damit andere sich besser informieren können“, sagt er. „Sie bleiben eher in ihrer eigenen Community, in Spaces, die sie als Safe Spaces betrachten.“

Die Wohnung, in der er seine YouTube-Show produziert, ist so ein Safe Space. „Wenn ich ganz im jeweiligen Augenblick bin und nicht über mein Verhalten nachdenke, über die Art, wie ich rede, wie ich mich verhalte, wie ich mich bewege – dann fühle ich mich sicher“, sagt er.
Aber diese Sicherheit ist für Shileku alles andere als selbstverständlich. Seit seinem Auftritt bei Big Brother hat er Drohungen in der Öffentlichkeit und im Internet erhalten. Solche Erfahrungen wecken Erinnerungen daran, wie er als Kind gehänselt wurde, weil er „zu weiblich“ war. Kürzlich erfuhr er, dass sein 10-jähriger Bruder in der Schule gemobbt wurde, weil er mit Shileku verwandt ist. „Da kamen all meine eigenen Kindheitstraumata wieder in mir hoch“, sagt er. „Das hat sehr wehgetan.“
Ein Ventil, um diesen Stress abzubauen, ist, als Victoria Owns bei queeren Veranstaltungen in Pristina und in den Nachbarländern auf der Bühne zu stehen. „Das ist für mich eine Art Therapie“, sagt Shileku, der davon träumt, weltweit zu touren. „Auf der Bühne werde ich furchtlos. Ich lasse alles raus. Ich liebe mich so, wie ich bin.“

Lendi Mustafa – Barbesitzer und Aktivist, 26 (er/ihn)
„Nichts hat mich glücklicher gemacht als der Moment, in dem meine Mutter anfing, mich ,mein Sohn‘ zu nennen“, sagt Lendi Mustafa, und seine Augen leuchten vor Stolz und Trauer. Als Mustafas Mutter im April dieses Jahres verstarb, verlor er seinen größten Halt. Sie hatte ihm während seiner 10 Jahre dauernden Transition stets den Rücken gestärkt.
Der Support seiner Mutter gab ihm die Kraft, für den Rest der queeren Community zu kämpfen. Ob er seine Transition online dokumentiert, auf der Pristina Pride eindringliche Reden hält oder sich in der Zivilgesellschaft für den Schutz von LGBTQIA+-Jugendlichen einsetzt, die von ihren Familien abgelehnt oder gewalttätig behandelt werden – Mustafa ist zu einem der schärfsten und effektivsten Aktivisten im Kosovo geworden.

Was ihn antreibt, ist die Erinnerung an seine eigene Jugend, als er nicht wusste, wohin er sich wenden sollte, um Hilfe zu bekommen. „Es fühlt sich einsam an, aufzuwachsen und keine Infos zu bekommen“, sagt er. „Du bist ganz allein. Niemand darf es wissen, und wenn du etwas verrätst, wirst du kaputtgemacht. Das war meine große Furcht: Wenn es jemand herausfindet, kann ich nicht mehr leben.“
Durch seinen Aktivismus setzt sich Mustafa dafür ein, den gesamte Kosovo für LGBTQIA+-Menschen sicherer zu machen. Seiner Meinung nach fängt das jedoch mit der Suche nach einem inneren Schutzraum an. „Wir wachsen in einer Gesellschaft auf, die uns vorgaukelt, dass das, was wir sind, nicht sicher ist“, sagt er. „Es gibt wenig Platz für die eigene wahre Identität. Deshalb glaube ich, dass wir wachsen können, indem wir uns ein Zuhause in uns selbst schaffen und uns gegenseitig ein inneres Zuhause geben. Diese Sicherheit können wir dann in neue Räume übertragen.“

Im Mai 2022 eröffnete Mustafa Bubble – die einzige queere Bar in Pristina. Den Support, den er von seiner Mutter erhalten hat, gibt er dort an alle weiter, die die Bar betreten. Neben regelmäßigen Drag-Shows sammeln die Mitarbeitenden des Bubble Spenden, um Transgender-Personen den Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen zu ermöglichen.
„Bubble ist ein Safe Space, der für andere errichtet wurde. Die Community kann an diesem Ort zusammenfinden und ihre Liebe teilen“, sagt er. „Sollte es morgen gefühlt keinen anderen Safe Space mehr geben, wird Bubble immer noch da sein.“

Erblin Nushi/Adelina Rose – FilmemachiX/Drag-Queen, 31 (they/them)
Adelina Rose trat erstmals 2018 in der Schwulenbar Pieces in Greenwich Village, New York, auf. Diese Drag-Figur gibt es, seit Erblin Nushi 25 Jahre alt war, und ist jetzt meistens im Bubble zu sehen.
Nushi, ein FilmemachiX, hätte nie erwartet, dass they sich im Kosovo ein Leben aufbauen würde. They ist zwar im Kosovo aufgewachsen, zog aber im Alter von 17 Jahren in die USA. Their erster Spielfilm führte them dann vor ein paar Jahren zurück. Das Ergebnis, I Love You More (Premiere später in diesem Jahr), nimmt die queere Identität im Kosovo als Ausgangspunkt für eine Geschichte über familiäre Liebe.

„Der Film handelt im Kern nicht unbedingt von den Kämpfen des Schwulseins im Kosovo“, sagt Nushi. „Die Message sollte die Liebe zwischen einem Kind und seiner Mutter sein, denn das gibt es hier leider nicht oft.“ Nushis Erfahrungen nach erhalten viele queere Menschen im Kosovo diese Liebe nicht.
Beim Dreh war Nushi von der Dynamik der lokalen queeren Bewegung begeistert und beschloss zu bleiben, um Teil des Wandels zu sein. „Als ich zurückkam, habe ich gemerkt, dass sich im Kosovo so viel getan hat; die Menschen in der Community machen so viel in so vielen verschiedenen Bereichen“, sagt they. „Ich wollte mit meiner Kunst, Drag und meinem Film einen Beitrag dazu leisten.“
Ein ständiger Konfliktpunkt sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften. „Das System erlaubt es uns nicht, das zu tun, was jede heterosexuelle Familie tun könnte“, sagt they. Nushi will der Bewegung zu helfen, die volle soziale und rechtliche Gleichstellung zu erreichen.

Die Drag-Figur Adelina Rose ist dabei ein wichtiger Teil von Nushis Aktivismus. Der Name Adelina stammt von der Grande Dame der kosovarischen Popszene, Adelina Ismaili, die von der queeren Community für ihre lautstarke Unterstützung geliebt wird. Und Rose ist eine Anspielung auf die Blumensträucher von Peja, der Stadt, in der Nushi aufgewachsen ist.
Auch their Outfits erzählen eine Geschichte. Adelinas Lieblingskleid mit roter Spitze wurde vor 19 Jahren von their Schwester zum Abschlussball getragen. „Ich war fasziniert, als sie es trug, und habe immer davon geträumt, dieses Kleid selbst zu tragen“, sagt they. Es ist nur eines von vielen Kleidern, die Nushis Mutter, eine Schneiderin, genäht hat. „Sie ließ mich manchmal Dinge für sie anprobieren, als wäre ich ihre Ankleidepuppe.“
Adelina Rose tritt häufig im Bubble auf, ein Space, der them an their Kinderzimmer erinnert, wo alles begann. „Das war mein Safe Space, denn in meinem Zimmer war es immer so, als wäre ich in einer anderen Welt“, sagt Nushi. „Jetzt, Jahre später, ist das Bubble für mich dieser Safe Space. Alles, was ich früher in meinem Zimmer gemacht habe, mache ich jetzt hier, nur eben mit Publikum. Früher habe ich vor einem Spiegel performt, jetzt vor 200 Leuten.“
Besa Luci ist Journalistin und lebt in Pristina. Sie ist die Mitbegründerin und Chefredakteurin des Magazins Kosovo 2.0.