Lasst uns über toxische Positivität sprechen
Der ununterbrochene Druck, positiv zu denken, ist so tief in unserer Kultur verankert, dass wir glauben, Positivität sei der einzige Weg, um in schwierigen Zeiten über die Runden zu kommen, und die einzige Antwort, wenn es jemandem schlecht geht. Meist ist diese Positivität gut gemeint, allerdings kann sie toxisch werden, wenn sie zur falschen Zeit oder bei den falschen Menschen eingesetzt wird, oder wenn es um ein Thema geht, bei dem ein positiver Ansatz nicht hilfreich ist.
Natürlich hat eine positive Einstellung ihre Vorteile. Wenn wir es aber mit der Positivität ein wenig zu weit treiben, dann kann sie als respektlos oder nicht hilfreich aufgefasst werden. Wenn ein*e Freund*in um jemanden trauert, heißt es: „Sei dankbar für die Zeit die du mit diesem Menschen gehabt hast.“ Wenn eine Frau eine Fehlgeburt hatte: „Wenigstens weißt du, dass du schwanger werden kannst.“ Oder wenn jemand mit jeglicher Art von Vorurteilen zu kämpfen hat, sei es Rassismus oder Homophobie, dann hört man oft: „Glücklicherweise denkt der Großteil der Menschen anders.“ Toxische Positivität bietet vermeintlich einfache Lösungen für ein komplexes Problem an. Über solche schwierigen Themen zu sprechen ist nicht dasselbe, wie sich über die Länge einer Warteschlange oder einen harten Arbeitstag zu beschweren. Es sind Themen, die uns zutiefst berühren und unsere Verletzlichkeit preisgeben. Wird in solchen Situationen mit toxischer Positivität reagiert, fühlt sich der Betroffene womöglich isoliert oder ignoriert. Denn wenn ich jemandem sage, dass es mir nicht gut geht, und darauf „Sei froh, es könnte noch schlimmer sein!“ zur Antwort bekomme – werde ich daraufhin meine Gefühle das nächste Mal wieder teilen? Nein, ich werde mich zurückziehen.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass Positivität uns schaden kann, aber positives Denken hat oft denselben Effekt wie ein Pflaster auf einer Schusswunde. Anstatt uns zu einer positiven Einstellung zu verhelfen, führt es zu noch mehr emotionaler Verdrängung, was wiederum schlechtere Laune, negative Gefühle bei sozialer Interaktion und auch auf anderen Ebenen sowie eine Verminderung der positiven Emotionen zur Folge hat. Eine Kultur, in der das Glücklichsein an erster Stelle steht, wirkt sich auch negativ auf unsere persönlichen Beziehungen und die Gesellschaft aus. Wenn wir bestimmte Gefühle als „schlecht“ empfinden, verpassen wir die Möglichkeit, uns mit anderen zu verbinden. Positivität wird oft auch als Waffe eingesetzt, um die Erfahrungen bestimmter Gruppen abzuschwächen. Wenn wir als Antwort auf Diskriminierung „Können wir alle einander nicht einfach nur lieben?“ sagen, entwerten wir die Erfahrungen, mit denen Randgruppen regelmäßig konfrontiert sind. Toxische Positivität schiebt die gesamte Verantwortung auf den Einzelnen ab, anstatt auf die Systeme und Institutionen, die positives Denken zu einer unmöglichen Lösung machen.
Seit Jahrhunderten werden Glücklichsein und Positivität als Wunderheilmittel gepriesen, aber es scheint nicht zu funktionieren. Wenn wir enge Beziehungen knüpfen und das gesamte Spektrum des Menschseins erleben möchten, dann müssen wir ganz einfach akzeptieren, dass das Leben kompliziert und nichts entweder nur gut oder nur schlecht ist. Anstatt falscher Positivität müssen wir lernen, auf die Gefühle zu hören, die mit uns geteilt werden, und eine einfühlsame Antwort anzubieten, wie „Deine Situation hört sich wirklich schwierig an“ oder „Ich höre die Trauer in deiner Stimme“. Zu lernen, uns selbst und andere in der Lebensetappe anzutreffen, in der wir uns gerade befinden, ohne unangebrachte Positivität aufzudrängen, könnte letztendlich der Schlüssel zu wahrem Glück sein.
Whitney Goodman, LMFT, ist die Autorin von Toxic Positivity: Keeping It Real In A World Obsessed With Being Happy, die Psychotherapeutin hinter dem Instagram Account @sitwithwhit und Besitzerin des Collaborative Counseling Center, einer virtuellen Therapiepraxis in Florida.